Hippie-Happyness am Herzberg

Herzberg! Der Name ist Programm, besonders in diesem Jahr, denn das Motto des Herzberg-Festivals lautet „We love Herzberg“… und tatsächlich scheint dieses älteste deutsche „Hippie“-Festival (seit 1968) für Machende und Besuchende eine Herzenssache zu sein. Und tatsächlich sind alle Beteiligten – Machende, Musizierende, Menschen – mit Herz dabei, denn trotz aller Widrigkeiten aufgrund des gefühlt permanenten Regens und des darob völlig aufgeweichten und verschlammten Bodens bleiben alle gut aufgelegt, friedlich, freundlich.

In einer Zeit, die von Krieg & Krawall, Feindseligkeit & „Hatern“ geprägt ist, in der die Verunsicherung durch Globalisierung & Digitalisierung, vergangene Pandemie & drohendem Klimakollaps und damit einhergehenden Wanderungsbewegungen den rechtsextremistischen Rattenfängern massenweise Menschen in die mörderischen Arme treibt, kommt das Herzberg-Festival fast schon anachronistisch freundlich und positiv zukunftsorientiert daher.

Leben als Kunstform

Was immer auch „richtige Hippies“ sein mögen (und ob es sie heutzutage überhaupt noch gibt; ich glaube, die letzten habe ich Anfang der 80er Jahre in Wohnhöhlen auf Menorca gesehen) – auf dem Herzberg sind wenige davon zu sehen, auch wenn eigenwillige Klamotten und Haartrachten das Bild prägen. Sich selbst und sein Leben als eine Art Kunstform zu gestalten, ist erstmal eine schöne Sache. Ansonsten sind Stilformen Geschmackssache; auch wenn mir manch expressiv dargestellte Individualität ästhetisch fragwürdig zu sein scheint.

Oder schlicht übertrieben. Sozusagen die Hippie-Variante des Penis-Autos (wer ein solches fährt, hat ’nen kleinen). Und manchmal kommt der Verdacht auf, dass Buchhalterin oder Supermarktkassierer sich für vier Tage die Freiheit nehmen, in eine andere Rolle zu schlüpfen und sich entsprechend zu verkleiden. Das sollten sie dürfen. Toleranz ist, wenn man existieren lässt, was einem persönlich nicht gefällt. Auch wenn da ein paar ganz schöne Geschosse zu sehen sind; männliche, weibliche, non-binäre, transgender, diverse, was-auch-wie-auch-immer.

(Auf die Bilder klicken, um eine große Version im Bilder-Karussel zu sehen.)

Jedem das Seine. Was zählt, ist die gute Laune und Freundlichkeit, die Hippie-Happiness, an der sich auch nichts ändert, nachdem das Wetter beim fröhlichen Reigen nicht mitspielt. Und an der auch nichts der Alkoholkonsum ändert. Das muss bemerkt werden, denn bei Musik- und anderen Festivals führen die damit einhergehenden Gelage nicht selten zu Aggressionen und Schlägereien – und davon ist auf dem Festival weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht liegt’s am ebenso ungenierten Marihuana-Konsum – wer kifft, schlägert nicht, lautet eine alte, wahre Regel.

Freilich: Was mich betrifft, der seit mehr als anderthalb Jahren keinen Alkohol mehr trinkt (und noch nie irgendwas geraucht hat) und ansonsten nur körpereigene Drogen konsumiert, ist es immer ein bisschen enttäuschend, das auch am Herzberg Feiern, Frieden- & Freiheitsliebe mit künstlich erzeugten Rauschzuständen einhergeht. Die Flaschen- und Aludosen-Berge auf Festival- wie Campinggelände sprechen ihre eigene Sprache. Es mag das „Recht auf Rausch“ seit den Jägern und Sammlern geben; ich glaube aber, dass sich Happiness auch ohne Rauschmittel einstellen kann.

(Auf die Bilder klicken, um eine große Version im Bilder-Karussel zu sehen.)

Es sei eingeräumt, dass ich das erst so wahrnehme, seitdem ich keine alkoholischen Getränke mehr zu mir nehme. Aber tatsächlich: Ich rieche Alkohol seither viel deutlicher – ein Weinglas in der Hand meines Gegenübers reicht und ich habe die olfaktorische Impression, dass da jemand mit einer Flasche Terpentin oder Aceton hantiert. Letztlich ist ja Alkohol nichts anderes als ein Reinigungsmittel; Ethanol eben. Und das bleibt er, auch wenn man ihn mit Kräutern versetzt.

Aufgrund der giftigen Wirkung des Ethanols auf das zentrale und periphere Nervensystem, die Leber und andere Organe sind alkoholische Getränke gesundheitsschädlich. Einen risikofreien Konsum gibt es nicht.

https://de.wikipedia.org/wiki/Getr%C3%A4nk#Alkoholische_Getr%C3%A4nke

Die kurzen Nächte sind natürlich unruhig, auch weil manch feierwütige Truppe jenseits des umfangreichen Musik-Angebots auf drei großen und mehreren kleinen Bühnen in der Freak City ihr Privat-Programm rund um ihre Wohn-Wagen und Zelte erklingen lässt. Heutzutage machen ja tragbare Boomboxen, gespeist von mobilen Lithium-Ionen-Akkus, ganz andere Flächenwirkung möglich. Abgesehen davon kommen manche Festival-Besuchende um drei Uhr früh lautstark vom Abhotten zurück, während die Kinder der Zeltplatznachbarn spätestens um 7 Uhr nach Beschäftigung schreien.

(Wer das nicht ertragen kann, soll auf kein Musik-Festival gehen).

Strukturell unterscheidet sich ein Hippie-Festival kaum vom, sagen wir,… Frankfurter Museumsuferfest. Musik, Fress-Stände, Klamotten- und Nippes-Läden fürs Ziel-Publikum. Und ein paar Infobuden von ökosozialen Projekten, Greenpeace, BUND, Humus Hood, DIE PARTEI, antirassistische und Anti-Nazi-Initiativen… immerhin.

Man sinkt immer mehr im knöcheltiefen Schlamm ein, Gummistiefel allerorten, wo es in den ersten beiden Tagen noch ein paar Geh-Pfade gab, ist später alles egal: einfach mitten durch den Schlamm. Manche auch bäuch- oder rücklings.

(Auf die Bilder klicken, um eine große Version im Bilder-Karussel zu sehen.)

Und die Musik? Es gibt zu viel davon, zu viel verschiedene obendrein, an zu vielen Orten, um einen repräsentativen Eindruck zu liefern. Fatoumata Diawara hat uns insofern enttäuscht, als dass ihr Gesang teilweise vom Playback zu kommen schien; der Sänger von Manfred Mann’s Earth Band verschwand immer von der Bühne, wenn er nicht am Mikrofon zu stehen hatte – er gab damit einem das Gefühl, dass er seinen Arbeitsanteil abliefert und ansonsten backstage ruht (wie die ganze Band ihr Pensum routiniert-souverän abspulte, aber da sprang kein Funke über).

Lola Marsh wurde bedauerlicherweise vom Regen gestoppt. Begeistert hat uns Jon Anderson und die Teenager der Paul Green Rock Academy – wie sie die alten, musikalisch nicht gerade simplen Yes-Songs (von Close to the Edge) und andere Stücke mit Feuer und Virtuosität intonierten, war beeindruckend. Und wie die Kids die Soli der exzellenten Yes-Musiker Steve Howe (Gitarre) und Rick Wakeman (Keyboards) nachspielten.. wow!

Abfahren auf der Neuen Heimat

Das Beste zum Schluss: Die riesige Campingwiese, „Neue Heimat“ tituliert, im Alltagsbetrieb laut nachbarlicher Aussage eine Pferdekoppel, weist eine deutliche Hangneigung wie Schräglage auf. Da keine Aussicht auf Besserung der Wetterlage bestand, reisten viele Besuchende schon Sonntag morgen ab – und wir hatten von unserem Standplatz aus bestes Live-Kino gen Tal rutschender Pkws, Wohnmobile, Wohnwagen mit verzweifelten Fahrer:innen am Lenkrad samt deren schreckgeweiteten Augen (uuuunnnndd off we go…!).

Mit ’nem Offroad-Bus und einiger Erfahrung im Geländefahren kann man da entspannt auf dem geöffneten Zeltdach des Bullis sitzen bleiben. Allerdings haben wir den Bitibulli zweimal sicherheitshalber umgeparkt: Zu dicht führte die Fall- bzw. Rutschlinie an ihm vorbei. Da wären dann bei uns die Augen schreckgeweitet gewesen.

(Auf die Bilder klicken, um eine große Version im Bilder-Karussel zu sehen.)

Es dauerte eine Weile, bevor der Veranstalter ein Einsehen hatte und schweres Gerät in Form dreier Schlepper und eines beräderten Schaufelbaggers schickten. Wobei einer der Traktoren als deutsche Variante des südafrikanischen Graders fungierte: Damit werden Schotterpisten halbwegs begradigt, also die gröbsten Wellblechpassagen und Felsbrocken planiert. In „good ol‘ Germany“ muss man halt Schlamm begradigen… Ein bisschen Sonne reichte dann, um den Schlamm anzutrocknen, und schon war wieder Traktion da. Vor den Bühnen hatten mittlerweile die Menschenmassen die Schlammfläche mit ihren Füßen plan gegradert.

Wir sind Sonntag Abend nach Manfred Mann’s Earth Band aufgebrochen. Für die Nacht waren weitere Regenfälle angesagt – die würden die planierte Abfahrten wieder verschlammen, so dass am Montag morgen mit weiteren Dramen der nunmehr massenweise Abfahrenden zu rechnen sei, war unsere Annahme. Also das window of opportunity genutzt und nichts wie raus. Und heim. Leider.