Lockstoff Hongkong: Der süße Duft des bescheidenen Wohlstands

Nach der Übergabe an China hat die ehemalige britische Kolonie ihre Anziehungskraft auf Zuwanderer nicht verloren

Der Mann im gefleckten Kampfanzug, schwarzes Barett auf dem Kopf, großkalibriger Revolver an der Hüfte, blickt von einem Wachtturm den stacheldrahtbewehrten Zaun entlang. Er läßt den Blick durch den Fernstecher in Richtung der zum Greifen nahe Hochhaustürme von Shenzhen wandern, hinter sich die grünen Hügelketten der New Territories: »Das ist halt die Spielregel: Die Illegalen versuchen über die Grenze zu kommen, wir schnappen sie und schicken sie zurück. In ein paar Tagen versuchen sie es erneut.« Kein Frust. »Das ist mein Job«, sagt John Holmes.

Er lehnt den Ellbogen aufs Fenstersims und winkelt das rechte Bein an. Der 41jährige Chief Inspector der Hongkonger Polizei jagt seit 15 Jahren »II’s« – »Illegal Immigrants«. Der Grenzposten Mankamto, einer von drei Übergängen zum chinesischen Festland, liegt bei Lowu im äußersten Norden der ehemaligen britischen Kolonie, stößt direkt an die Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Die Illegalen basteln sich Kletterhaken und Wurfanker, rücken dem Zaun mit Kneifzangen und Metallsägen zu Leibe.

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In kleinen Gruppen marschieren sie meist nachts los. Sie warten zusammengekauert in den Büschen vor dem Zaun, häufig Frauen mit Kindern. Wenn sie den Zaun überwunden haben, hasten sie die Hügel hinauf so schnell die Beine tragen. Viel Zeit bleibt nicht, bis die Polizisten auftauchen. Wer hier durchschlüpft, mag ein kurzes Glücksgefühl spüren, geschafft hat er es nicht: »Ortskenntnis ist wichtig«, meint der rothaarige Hüne und verschränkt die kräftigen, sommersprossigen Arme, die Uniformärmel hochgekrempelt, »falls wir sie um Mitternacht verpaßt haben, wissen wir, wo wir sie um 3 Uhr kriegen.«

Messer oder andere Waffen tragen die Illegalen in der Regel nicht bei sich. Ein Kampf gegen einen der 550 Grenzpolizisten lohnt sich nicht – allein deshalb, weil die chinesischen Behörden dem Abtrünnigen nur einige Yuan Geldstrafe aufbrummen. Die von der Polizei Aufgegriffenen kommen in ein »Holding Center« und werden innerhalb von 48 Stunden zurückgeschickt. Jeden Tag um 3 Uhr trottet eine Gruppe hinüber. Der Zaun verläuft entlang einer Hügelkette, sanft fällt das Gelände zum stinkenden Grenzfluß ab. Dann noch wenige Meter – und unvermittelt ragt die kilometerbreite Front der Hochhausblöcke Shenzhens empor. Die Millionenstadt wuchert ungebremst in die Höhe und Breite, ein El Dorado nach chinesischen Maßstäben. Doch bietet sie wenig im Vergleich zu den gefährlichen, aber zehnmal so gut bezahlten Jobs auf den unzähligen Baustellen der »boomtown« Hongkong.

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Bildergalerie: Grenzpolizisten bei der täglichen Fahrzeugkontrolle

35 Kilometer Zaun von Mai Po im Westen bis Sha Tau Kok im Osten trennen den »duftenden Hafen«, seit dem 1. Juli Teil Chinas, vom Land Maos und Deng Hsiao-pings. »Ein Land, zwei Systeme « heißt die offizielle Losung der chinesischen Wiedervereinigung. Die rostige Dornenkrone des Maschendrahtzauns verhindert in fünf Meter Höhe das Überklettern, in den Aussichtstürmen spähen die Wachtposten, überall lauern Bewegungs- und Wärmedetektoren, patrouillieren Zweierstreifen auf Mountain-Bikes.

Am Grenzübergang Richtung Hongkong, den täglich rund 10.000 Lkw’s überqueren, liegen zwei Polizistinnen bäuchlings auf Holzpritschen unter Sonnenschirmen im Straßenstaub. Einen Meter vor ihrer Nase rattern die schweren Trucks im Schrittempo vorbei. Ein schneller Blick zum Radgestänge, ein kurzer in einen Spiegel, der die Unterseite der Fahrzeuge zeigt – kein Illegaler hat sich unten an den Wagen gehängt. Um nach Hongkong zu kommen, riskieren die Festlandschinesen viel: Manch einer wird unterm Lkw zermalmt, manchmal finden Holmes‘ Leute eine Leiche im Fluß. Wer sich am Zaun versucht, gehört zu den ganz armen Schluckern ohne Beziehungen, ohne Geld für eine Bootsfahrt. Was die tägliche Lkw-Flut auf ihren Ladeflächen transportiert – Waren oder Menschen – läßt sich kaum kontrollieren. Wo eine Grenze, da eine Schmugglerbande. Im vergangenen Jahr wurden 5146 Illegale an der Grenze ertappt, 23.180 auf dem ganzen Territorium. »Wir glauben, daß wir einen von zwei Illegalen schnappen, vermutlich sogar mehr,« sagt John Holmes.

Ein Zaun trennt arm von reich

Zwei Systeme sicherlich, aber ein Land? Die »II’s« stellen eines der drängendsten Probleme der ehemaligen Kronkolonie dar, in der Wohnungen fehlen wie kein anderes Gut. Im Durchschnitt leben rund 6000 Menschen auf einem Quadratkilometer (Großbritannien: 230) – eine hohe, gleichwohl irreführende Zahl, die nur durch die spärlich bewohnten Flächen in den New Territories oder der Insel Lantau zustandekommt: Denn im zentralen Ballungsbezirk Mongkok drängeln sich nach regierungsoffiziellen Angaben 128.000 Menschen auf einem Quadratkilometer, in den Nachbarvierteln Yaumatei, Shamshuipo oder Tsimshatsui sind es nicht viel weniger. Vor der Toren der Sonderverwaltungszone sitzen zehntausende Kinder und wollen ins gelobte Land: Nachwuchs von Hongkong-Männern, die in Festlands-China eine Frau haben oder hatten. Eigentlich haben sie ein Anrecht auf Einreise, doch eine restriktive Auslegung der Hongkonger Mini-Verfassung hält sie derzeit draußen.

Hundert Tage nach dem »Handover« an das kommunistische China zieht die Glitzermetropole am Perlfluß Arbeitsemigranten und Flüchtlinge mehr denn je magisch an. Sie kommen aus China und Vietnam, in der Hoffnung auf ein kleines bißchen Wohlstand. In Mankamto späht John Holmes durchs Fernglas. Ein Land, zwei Systeme? »Ein Zaun dient dazu, die Armen von den Reichen zu trennen«, sagt der Polizeioffizier.

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