Das Blumenbukett an der Wand des »Peninsula« hat die Größe eines Familien-Badetuches. Wer auf der Straße als Gastgeschenk einen Strauß Blumen kaufen will: 50 Hongkong-Dollar reichen nicht aus, um nur eine zu erstehen. Aber in den Frühstückssälen des teuersten Hotels am Platze läßt man sich bei der Dekoration nicht lumpen, nicht in Hongkong, nicht wenn eine deutsche Großbank eine Pressekonferenz für eine Schar serviler Stichwortgeber der internationalen Wirtschaftspresse hofhält. Ab und zu zupft ein livrierter Lakai einheimischen Geblüts am Bukett.
Lee Man-ko hat es auf seine Weise hoch hinauf geschafft. Eines Tages schlichen sich ein paar raue Burschen in abgetragenen Klamotten die stinkenden neun Stockwerke eines heruntergekommenen Wohnhauses in der Pitt Street hoch und begannen auf dem Dach aus Sperrholzplatten vier Hütten zusammenzubauen. Als die Buden fertig war, verschwanden sie ohne irgendjemand im Haus Bescheid zu sagen, und wissen wollte es auch niemand. Schnell bezogen wurde der Verschlag jedenfalls. Den Besitzer – chinesische Triaden vielleicht? – kennt Lee nicht, und dem »Agenten« steckt er nur Monat für Monat 5000 Hongkong-Dollar zu, Strom und Wasser gehen extra.
Dann können sie bleiben, Lee, seine Frau und vier Kinder, in ihrem Zuhause: Zwei Zimmer, jedes mit Doppelstockbett und Matratze auf dem Boden, ein gefliester Wohnraum, den ein Tisch und ein als Regal dienender Kühlschrank füllen. Tapetenfetzen hängen herunter, aus den Löchern in den Wänden bröseln Sperrholzschnipsel. Um die schwüle Sommerhitze zu ertragen, stehen alle Fenster auf, surren drei Ventilatoren. Keine Bilder an den Wänden, kein Hausaltar: Lee fürchtet Ärger mit dem Besitzer seiner Behausung, und das kümmert ihn mehr als der Stand des Hang-Seng oder wieviel Hühner die Hongkonger Regierung abschlachten läßt.
Lee ist ein kleiner, schmächtiger Mann, mit wirrem Haarschopf und einem schüchternen Lächeln. Er freut sich, als ihm die Sozialarbeiterin Ausschnitte einer schwedischen Zeitung mitbringt: Die Fotos zeigen ihn und seine Familie, Resultat des letzten Besuchs von Reportern bei den »rooftop-people«, den Dachbewohnern. Von letzteren soll es 180.000 in Hongkong geben, also eine ganze Stadt auf den Dächern der Hochhäuser in Mongkok, Yaumatei, Shamshuipo und anderswo.
Vor 25 Jahren hat Lee der schiere Hunger aus dem chinesischen Weizhao getrieben. Alleine vier Tage marschierte er durch die Berge Guangdongs, drei Stunden lang schwamm er durchs haiverseuchte Meer, bis seine Hände Hongkonger Land berührten. Damit war er aufgenommen ins Wunderland, denn die bis 1980 geltende, »touchbase« titulierte Politik nach bestem britischen Sportsgeist garantierte jedem, der durchkam, den Aufenthalt. Jahr für Jahr kletterten so die Einwandererzahlen. 200.000 kamen schließlich 1979 ins Land, und damit hatten die Briten vom Fairplay die Nase voll. Seither nimmt Hongkong pro Tag 150 Festlandschinesen auf, die bei den chinesischen Behörden einen entsprechenden Antrag gestellt und mit einem Bestechungsgeld vorangetrieben haben.
»Bullen« und Banden: weltweit wächst zusammen, was zusammen gehört. Obdachlose »street sleepers« gibt es in Hongkong jede Menge, abgesehen von 10.000 »Cage people« in ihren Wohnkäfigen. Oder den Leuten in den Betonverschlägen in heruntergekommenen Hochhausetagen, in die gerade ein Bett paßt, und so werden diese Unterkünfte denn auch »bed’s space apartments« genannt.
Die Hongkonger Ordnungsbehörden haben keine Lust, dass die Dachbewohner auch noch auf der Straße schlafen. Also lassen sie Bau-Banden und Abkassierer gewähren. Wenn es Zeit für eine öffentlichkeitswirksame Abräumaktion wird, haben Lee und besonders die seiner Schicksalsgenossen, die eine Sperrholzhütte gegen ihre mageren Ersparnisse eingetauscht haben, auf irgendeinem Dach der Stadt, das Nachsehen. An das pralle Geldsäckel des Erbauers der Hütte geht niemand.
Lee fristet sein Dasein erst seit einem halben Jahr auf dem Dach, vorher lebte die sechsköpfige Familie in einer Wohnung von der Größe eines Bettes. Rund 8000 Hongkong-Dollar – etwa 2000 Mark – kriegt er monatlich als Hilfsarbeiter auf den schwankenden Bambusgerüsten des Hongkonger Hochhausbaus zusammen. Findet Lee keine Arbeit, springt seine Frau Leung Ming-yuk ein, als Bedienung oder Putzhilfe. »Weniger essen und billig einkaufen« lautet seine Losung, um über die Runden zu kommen.
Der Tagelöhner greift jeden Abend zum Telefon und hofft auf einen der gefährlichen, aber einträglichen Jobs auf dem Bau. Lees Lebenslage ist der Traum von tausenden von Chinesen – jenseits der Grenze im Norden Hongkongs. Allerdings: Vor die Erfüllung des Traumes hat die Hongkonger Regierung John Holmes und weitere 550 Grenzpolizisten gestellt, dazu noch eine Menge technisches Material wie Wärmesensoren und Bewegungsmelder, Feldstecher und Feuerwaffen. Keine Hunde: »Menschen sind leichter zu trainieren«, meint der stämmige Mann mit dem gleichen Sarkasmus, mit dem er Besuchern erklärt, warum ein simpler Gong als Feueralarm genutzt wird: »Wenn man etwas durcheinanderbringen will, braucht man einen Computer.«
Sechseinhalb Millionen Menschen leben dichtgedrängt in Hongkong, im Stadtteil Mongkok etwa 128.000 pro Quadratkilometer. Wenn in Hongkong etwas fehlt, dann Platz und Wohnungen, aber ante portas gibt es tausende und abertausende, die rein wollen.
John Holmes ist ein Mann ohne Illusionen. Vielleicht einen von zwei Illegalen schnappen er und seine Männer und Frauen, sagt er, aber der rothaarige, sommersprossige Brite hat noch zehn Jahre bei der Grenzpolizei vor sich, bevor er mit 55 in den Ruhestand treten darf. Einen anderen Job findet er in seinem Alter nicht mehr, obwohl er lieber ins grüne England heim will, weg vom Lärm, Gestank und Schmutz Hongkongs. Also jagt er »II’s« – »Illegal Immigrants«.
Die kommen meist aus einer Gegend, die in China als prosperierende gilt: die südlichen Provinzen wie Guangdong. Doch selbst die »boomtown« Shenzhen, deren Hochhaustürme wie eine Wand auf der anderen Seite der Grenze beim Mankamto in die Höhe schießen, kann mit den Verlockungen der ehemaligen britischen Kronkolonie nicht mithalten. Also versuchen sie sich mit Enterhaken, Kletterseilen, Metallsägen und bloßen Händen am Zaun. Den ziert eine metallene Krone aus Stacheldraht, Typ »guter altmodischer«, sagt Polizist Holmes: nicht der fleischzerfetzende NATO-Draht mit Widerhaken, den seine deutschen Kollegen kilometerweise um die Startbahn West und die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf ringelten.
Viele kommen durch, doch nicht weit, denn Holmes’ Häscher kennen die Pfade ins Hinterland. Um Mitternacht über den Zaun, gegen 3 Uhr einige Kilometer weiter geschnappt, ab ins »Holding Center«, am nächsten Tag gegen 15 Uhr zurück nach China. So schnell geht das. Mancher kommt nicht so weit und auch nicht wieder: Ab und zu treibt eine Leiche im Perlfluß, vor dem Zaun.
Deswegen krabbeln andere unter einen der zehntausenden Lkws, die die Grenze wöchentlich zwischen Hongkong und Shenzhen passieren. Sie klammern sich an Achsen und Gestängen fest, schlüpfen in Radkästen und Hohlräume und hoffen, dass ihre Kraft nicht versagt und sie nicht zwischen die mächtigen Zwillingsreifen fallen, und daß die beiden Polizisten am Checkpoint schlafmützig sind. Denn während die Trucks im Schrittempo vorbeirattern, liegen Männer oder Frauen in gefleckten Kampfanzügen auf Holzpritschen in den Staubwolken. Sie werfen einen Blick unters Chassis der Trucks auf der Suche nach zerlumpten Gestalten neben der rotierenden Kardanwelle. Eine Stunde lang währt der dreckige Job, dann ist Schichtwechsel.
In einem der Frühstückssalons des »Peninsula« rücken Banker und Journalisten Schulter an Schulter ans kalte Buffett unterm Blumenbukett. China lockt, der Markt, die Zukunft. »Wir wären noch ärmer, wenn wir traurig wären«, sagt Lee Man-ko in seiner Hütte auf dem Dach. »Eine Grenze dient dazu, die Armen von den Reichen zu trennen«, sagt John Holmes, schwarzes Barett auf dem Kopf, großkalibriger Revolver an der Hüfte, im Wachturm.