Der ruhige Fluss des Lebens

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Es spricht viel dafür, sich von fernen und fremden Kulturen beeinflussen, inspirieren, motivieren zu lassen, sich ihnen zuzuwenden, und mit den eigenen lokalen und regionalen Traditionen zu vergleichen. Dies kann sehr bereichernd sein. Wohl kaum ein großer Denker, der nicht dazu animiert hätte, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen.

Manchmal geht man so einen Weg ins Andere, kommt an – und stellt später fest, dass es diesen Ort in der eigenen Landschaft schon gegeben hat. Dass man vor lauter Streben ins Ferne das Naheliegende nicht gesehen hat, und dass erst der Aufenthalt in der Ferne den Blick auf die eigene Umgebung geöffnet hat.

Morallehren und Lebensbewältigungs-Methoden

Das trifft auf viele kleine und große Themen zu. Zu den ganz großen gehört natürlich die Bewältigung des Lebens schlechthin, und weil die christliche Religion aufgrund ihrer Schandtaten in der Vergangenheit (zumindest in ihrer katholischen Ausprägung) bei vielen abgewirtschaftet hat, wenden sich Sinn-Sucher in Europa häufig dem Buddhismus zu.

Eigentlich keine Religion im Sinne des Christentums, das, man vergesse es nicht so schnell, gar nicht in Europa entstanden ist. Keine Buchreligion, wie der christliche Vorläufer und der – nach eigenem Verständnis – Nachfolger: Judentum und Islam. Der Buddhismus kennt kein Buch und keinen Gott, und ist insofern eher eine Morallehre, wie die Menschen miteinander umgehen sollen, und eine Methode, wie die Menschen mit den vielfältigen Schwierigkeiten, die das Leben zwangsläufig mit sich bringt, umgehen sollten, damit es allen besser geht.

Europäische Buddhisten: die Stoiker

Dagegen ist nichts einzuwenden; ebenso wenig dagegen, sich von dieser sympathischen gewaltlosen Lehre angezogen zu fühlen. Der Blick auf die eigene abendländische Geschichte könnte freilich dazu führen, zu erkennen, dass Europa mit seinen griechischen und römischen Denkern und Philosophen eine eigene Tradition besitzt – in der ähnliche Inhalte wie im Buddhismus gelehrt werden.

Epiktet etwa ist eine Art Vorläufer von bekannteren Denkern (wiewohl er unter den vielen griechischen und römischen zu den bekannteren zählt) wie etwa den römischen Stoikern Marc Aurel und Seneca – diese beiden etwa haben sich schon auf Epiktet bezogen. Der wiederum auf Sokrates…

Das Handbuch des Epiktet

Und so ist der Achtsamkeitslehrer (nach der MBSR-Methode) in mir, der sich ja in seinen Grundlagen auf einem buddhistischen Urgrund und eine buddhistische Tradition beruft, immer wieder verblüfft, bei Epiktet, bei Epikur, bei Marc Aurel, bei Seneca etwa Aussagen und Inhalte zu lesen, die einem aus buddhistischer Ecke her nur zu bekannt vorkommen.

Beispiel?

Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. So ist z.B. der Tod nichts Schreckliches, (…); sondern die Meinung von dem Tod, dass er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche. Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen, oder beunruhigt, oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen anderen anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen. – Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Missgeschicks anzuklagen; Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen anderen, noch sich selbst anzuklagen.

Vorstellungen und Hindernisse

Im buddhistisch basierten MBSR-Achtwochenkurs wird der Achtsamkeitslehrer nicht müde, die Teilnehmer damit zu konfrontieren, dass Gedanken & Gefühle nur Gedanken & Gefühle sind, die ein Gehirn denkt und emotional-neuronales Gesamtsystem erzeugt. Nichts weiter; sie kommen und gehen und vergehen – und was häufig Ärger und Angst, Stress und Panik erzeugt, ist die Vorstellung von etwas; selten die Sache selbst, so zeigt sich meist.

Und dabei spricht der Buddhismus fast wortwörtlich von „Aversionen“, also Hindernissen. Und er predigt, dass es im Leben immer darauf ankomme, die Geschehnisse, die unvermeidbar sind, zu akzeptieren. Im Deutschen steckt im Wort „akzeptieren“ etwas Negatives, man verbindet damit resignieren… Aber eigentlich geht es ums durchaus wohlwollende Anerkennen, dass die Dinge sind, wie sie sind, und das bedingungsloses Anrennen dagegen vor allem dazu führt, unglücklich zu werden.

Was in unserer Gewalt ist

Und wie äußert sich Epiktet dazu?

Verlange nicht, dass die Dinge gehen, wie du es wünschst, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahinfließen.

Denn:

Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.

(…)

Und die Dinge, die in unserer Gewalt stehen, sind von Natur frei; sie können nicht verhindert, noch in Fesseln geschlagen werden. Die Dinge aber, die nicht in unserer Gewalt stehen, sind schwach, und völlig abhängig; sie können verhindert und gefesselt werden.

Alter, Krankheit, Tod

Der Leib steht nicht in unserer Gewalt? Aber das weiß der Buddha-Kundige doch nur zu genau: Alter, Krankheit, Tod sind – ob früher, ob später – unvermeidlich, eine Konfrontation damit wird auf jeden Fall anstehen. (Abgesehen davon geht es im Buddhismus auch um Alter, Krankheit, Tod nahestehender Personen – wenn sie vor uns davon erfasst werden, erzeugt das genauso Leid in uns.) Epiktet war das klar:

Willst du aber Krankheit meiden, oder Armut, oder Tod, so wirst du unglücklich sein.

(…)

Krankheit ist ein Hindernis des Körpers, aber nicht des Willens, wenn er nicht selbst will. Lähmung ist ein Hindernis des Fußes, aber nicht des Willens. Und so denke bei allem, was dir begegnet; denn du wirst finden, dass es wohl ein Hindernis für etwas anderes ist, aber nicht für dich.

In der Tradition des vietnamesischen Buddha-Lehrers Thich Nhat Han heißt es:

Present moment, wonderful moment.

In Übereinstimmung damit geht es im MBSR-Achtwochenkurs nach Jon Kabat-Zinn, einem Molekularbiologen, immer wieder um das achtsame Sein im Jetzt und hier. Diejenigen, die den Kurs bei mir absolviert haben, werden sich erinnern. Von all dem wusste Marc Aurel zwei Jahrtausende zuvor gewiss nichts, aber er wusste:

Und wenn du dreitausend Jahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, es hat doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als er einmal verlieren wird. Und so läuft das längste wie das kürzeste auf dasselbe hinaus. (…) …auch der, der am längsten gelebt hat, verliert doch nur dasselbe, wie der, der sehr jung stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand kann verlieren, was er nicht hat.

Und daher, so Epiktet schließlich:

Hinweg also mit deinem Widerwillen von all dem, was nicht in unserer Gewalt ist.

Gedanken & Gefühle als mentale Formationen

Bei Thich Nhat Han – als im Westen sehr bekannten buddhistischen Mönch – zählen „ Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille“ zu den mentalen Formationen, denen man in Meditation & Achtsamkeit begegnen kann.

Gedanken & Gefühle nichts weiter als – meist störende – mentale Formationen? Epiktet kannte dieses Phänomen offensichtlich auch:

Bestrebe dich, jeder unangenehmen Vorstellung sofort zu begegnen mit den Worten: du bist nur eine Vorstellung, und durchaus nicht das, als was du erscheinst. Alsdann untersuche dieselbe, und prüfe nach den Regeln, welche du hast, und zwar zuerst und allermeist nach der, ob es etwas betrifft, was in unserer Gewalt ist, oder etwas, das nicht in unserer Gewalt ist; und wenn es etwas betrifft, das nicht in unserer Gewalt ist, so sprich nur jedes Mal sogleich: Geht mich nichts an!

Und bei Marc Aurel kommt die achtsame Prüfung der eigenen inneren Vorgänge so daher:

Wenn man nicht herausbringen kann, was in des andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendigerweise unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im unklaren ist.

Seneca wird einige Zeit später zusammenfassend schreiben (und vieles mehr):

Halte Menschen nicht für glücklich, der von seinem Glück abhängig ist. (…) Eine Freude, die von außen kommt, wird uns auch wieder verlassen. Jene Werte aber, die im Inneren Wurzeln, sind zuverlässig und dauern.

Also, wer mit der Hinwendung zum Buddhismus nichts anfangen kann, wird daheim allemal fündig: Griechen und Römer haben uns Denker und Philosophen*, Demokratie und Verbindlichkeit von Recht und Gesetz gebracht – und das Christentum übrigens Humanität und (Nächsten-)Liebe (auch wenn diese in der Geschichte des Christentums mehrmals unter die Räder gekommen sind). Und letztere entsprechen durchaus der Metta-Tradition des Buddhismus (“Liebende Güte”)…

*Vielerlei dazu ließe sich u.a. bei Marc Aurel und Seneca noch finden – doch, ein anderes Mal womöglich will ich deren Sentenzen nachtragen. Hier erst mal:
Epiktet: Handbuch des moralischen Lebens (Kindle-Edition)